Kevin Bowyer (German translation by Wolfgang Kleber): Sorabji’s Organ Symphony No. 1 (5/9)

Sorabji und die Orgel

Obwohl er in der Zeit um 1920 einige Orgelstunden in London genommen hatte und eine großartige Klaviertechnik besaß, hielt Sorabji sich niemals für einen erstklassigen Organisten. Doch seine Art für dieses Instrument zu schreiben zeigt seine umfassende Kenntnis, was möglich und was nicht möglich ist, ebenso was wirkungsvoll und was nicht wirkungsvoll ist. Es gibt Orgelstimmen in beiden Orchestersymphonien (Symphony No. 1 von 1921–22 für Orchester, Klavier, Orgel und Chor und die „Jami“-Symphony (No.2) von 1942-51 für Orchester, Klavier, Orgel, Chor und Baritonsolo) und auch die Messa Alta Sinfonica von 1955–61 (für Orchester, Orgel, Soli und Chor). Aber seine wichtigsten Beiträge für die Orgelmusik sind die drei Symphonien für Orgel solo.

Die Erste Orgelsymphonie wurde 1923–24 geschrieben. Sie ist Emiliy Edroff-Smith gewidmet, einer Freundin der Mutter Sorabjis und von ihm sehr geschätzte Klavierlehrerin. Das Werk wurde 1925 von Curwen veröffentlicht und ist besonders wichtig für Sorabjis frühe Schaffensperiode; er selbst hielt es für seine erste ausgereifte Komposition überhaupt. Dies ist eine sehr wichtige Feststellung, umso mehr als er zu dieser Zeit bereits die ersten drei Klaviersonaten, die erste Orchestersymphonie und einige kleinere, aber wunderbare Klavierstücke wie „In the Hothouse“ (1918), Fantasie Espagnole (1919), Prelude, Interlude and Fugue (1920) und „Le Jardin Parfumé“ (1923) verfaßt hatte. Nicht weniger als sechs Klavierkonzerte hatte er schon früher geschrieben, das Siebte wurde 1924 fertiggestellt! Einige Jahre vor der ersten Publikation großer Orgelwerke von Messiaen und ohne sich einzufügen in eine entsprechende Tradition ist es kaum verwunderlich, daß die überwiegende Reaktion auf das Erscheinen von Sorabjis erster Orgelsymphonie Verwirrung auslöste, ganz gewiß unter Organisten. Diese Verwirrung hing zusammen mit der Tatsache, daß der Komponist ebenso wie auch in seinen späteren Orgelsymphonien fast ganz auf Registrierungsangaben verzichtete und nur gelegentliche Eintragungen zur Dynamik machte (sogar diese fehlen in den späteren Werken). Das Erscheinen dieser Musik mußte völlig fremd auf die damaligen Organisten wirken, besonders in England, wo sogar die dichten Partituren Regers selten zu sehen waren. Wie auch immer, es war das erste Werk, das auf soliden, erprobten und vertrauten Formen wie Passacaglia, Fuge usw. beruhte. Verglichen mit dem erstaunlichen Experiment der Dritten Klaviersonate (1922) ist es ein sehr verständliches Werk.

Schon 1928 wagte ein Organist, wenigstens einen Teil des Werkes zu spielen. Edward Emlyn Davies (24.1.1885–14.5.1951) war Organist an der Westminster Congregational Church (heute: Westminster Chapel), wo eine dreimanualige Father Willis Orgel von 1879 steht, die 1920 von Rushworth & Dreaper auf vier Manuale mit 54 Registern erweitert worden ist. Er war im großen und ganzen ein sehr bescheidener, zurückgezogener Mensch. Christopher à Becket Williams, ein Freund von Davies und Sorabji sagte, daß Davies „hatte die selbe Macht über die Orgel wie eine Katze über ihren Körper“. Am 17. Mai 1928 spielte Davies den Mittelsatz der Orgelsymphonie in einem öffentlichen Konzert in seiner Kirche. Der Komponist war anwesend. Der 26 Jahre alte William Walton war auch dabei und schrieb später an den Komponisten:

„Ich habe den Satz aus der Orgelsymphonie so sehr genossen, daß ich wünschte, ich könnte sie ganz hören. Die Klarheit und Logik hat mich sehr beeindruckt und ich konnte dem Werk leicht folgen (eine Tatsache, die man — wie Sie zugeben werden — der Partitur nicht ansieht). Man hörte die schönsten Klänge, besonders gegen Ende. Die Höhepunkte waren sehr aufregend. Ich hoffe, daß Davies sich überreden läßt, irgendwann das ganze Werk zu spielen …“

Offensichtlich war die Aufführung ein großer Erfolg. Sorabji schrieb an die Musical Times, die den Brief am 1. Juni 1929 abdruckte:

„Sir, … vor einiger Zeit wurde in der Westminster Congregational Church, Buckingham Gate, der zweite Satz des meiner Meinung nach schwersten Orgelstückes, das jemals geschrieben wurde, aufgeführt. In der Tat haben viele Fachleute geäußert, das Werk sei unspielbar … Die Gelegenheit, auf die ich mich beziehe war die Aufführung des zweiten Satzes meiner Orgelsymphonie durch Herrn E. Emlyn Davies — eine Aufführung, der man mindestens das Prädikat „ausgezeichnet“ erteilen muß, zumal wenn man bedenkt, welche Schwierigkeiten zu bewältigen waren, das Werk neben der Belastung durch alle andere Arbeit im Leben eines beschäftigten Musikers, um ganz zu schweigen von der gesundheitlichen Verfassung, in Angriff zu nehmen und aufzuführen in einem völlig uneigennützigen Enthusiasmus, der niemals durch die mühsame und schwierige Natur des vorzubereitenden Werkes gedämpft wurde. Eine Aufführung pro Jahr in der Qualität der von Mr. Emlyn Davies bedeutet mehr für einen Komponisten als tägliche Aufführungen von gewöhnlicher Qualität. Und ich möchte die Gelegenheit nutzen, Mr. Davies‘ bemerkenswerte Kraft, seine billante Musikalität, seine fast hellseherischen Einsichten, seine lebhafte und einfühlsame künstlerische Vorstellung, bekannt zu machen — als eine bescheidene Dankesgabe.“

Hohes Lob in der Tat … und Davies wurde geehrt durch die Widmung der Zweiten Orgelsymphonie (1929–32).