Kevin Bowyer (German translation by Wolfgang Kleber): Sorabji’s Organ Symphony No. 1 (9/9)

Aus The New English Weekly vom 2. April 1936:

„Sonntag, 15. März, Royal Albert Hall, Orgelkonzert, Fernando Germani: Dieser junge Italiener ist, wie ich meine, ohne jede Einschränkung der erstaunlichste Orgelviruose, den ich jemals gehört habe. Er ist im wörtlichen Sinne zu Allem fähig. Aber das ist bei weitem nicht genug. Erstaunliche Technik verbindet sich mit einer empfindsamen romanischen Finesse des Stils und einem selten anzutreffenden musikalischen Künstlertum. … Signor Germani ist, wie es scheint, ein Meister, der alle verschiedenen Schulen des Orgelspiels vereint; doch um seine außergewöhnliche Größe hervorzuheben, möchte ich nur seine Interpretation des Chorals Op. 40, 1 von Reger heranziehen. Hier hörte man einen authentischen Reger, unter den Händen eines Meisters von seltenem Verstand und Mitgefühl.
Signor Germanis Registrierung zeigt eine differenzierte klangliche Anpassungsfähigkeit, die ich nur mit einigen herausragenden Meistern der orchestralen Instrumentierungskunst vergleichen kann, etwa mit Berlioz. …“

Die Orgeln in der Royal Albert Hall, Salisbury Cathedral und Liverpool Cathedral wurden alle von Sorabji besonders gelobt. The New English Weekly druckte am 8. November 1934 einen längeren Artikel über die Orgel in der noch nicht fertiggestellten Cathedrale in Liverpool. Der Komponist beschreibt nicht nur den Klang des Instruments sondern auch sein Gehäuse in einigen Details. Der Text schließt mit der folgenden Abschnitt, der für viele vielleicht etwas überraschend ist:

„… ein Instrument, das den gleichzeitigen Einsatz von Händen und Füßen erfordert und einen Grad an Denkleistung, zu welcher der gewöhnliche Berufsmusiker nicht fähig ist; dies sind Dinge, die ihn weit überfordern, und sie sollten zumindest eher dazu dienen, die Kreatur zu einer respektvollen Stille zu bringen als zu einem lärmenden und aufdringlichen Zurschaustellen der eigenen Impertinenz und Ignoranz. Ich gehe noch weiter und deklariere es als meine feste Überzeugung, daß das allgemeine Niveau der Musikkultur und der persönlichen Fähigkeiten bei den Organisten viel, viel höher ist als bei anderen Musikern, weil eine so hohe geistige Leistungsfähigkeit erforderlich ist.“

In unserem Jahrhundert wurde viele gute Orgelmusik geschrieben, aber nur wenige wirklich geniale Werke sind darunter. Das ist gut so, denn Superlative wie „genial“ und „brillant“ sollten reserviert bleiben für die wenigen seltenen Fälle, in denen sie wirklich zutreffen. Zu den sehr wenigen Orgelpartituren, die man zu den „Twentieth Century Works of Genius“ zählen kann, gehören die Orgelwerke von Messiaen, die Variations on a Recitative von Schönberg, Commotio von Carl Nielsen und die Orgelwerke von Sorabji. Neben manch anderem ist schon viel über die technischen Schwierigkeiten in Sorabjis Werken gesagt worden, doch es ist ihm niemals darum gegangen, etwas schwieriger zu machen, als es unbedingt sein muß; nie wollte er Virtuosität als Selbstzweck:

„Als er die Schmeichelei des Publikums für den Virtuosen bemerkte, sagte Debussy, daß im Hintergrund ihres Denkens immer die unausgesprochene Idee steht, der clevere Virtuose könne den Konzertflügel zwischen seinen Zähnen von der Bühne tragen oder den Dirigenten auf der Nasenspitze balancieren; um es richtig zu verstehen: ich denke, daß die Schmeichelei des Publikums im wesentlichen dem Interesse an und der Begeisterung über Akrobaten entspringt.“

Eine Handvoll moderner Werke haben vergleichbare technische Schwierigkeiten wie die von Sorabji. Es sind die Sieben Sterne (1970, 17 Minuten) von Brian Ferneyhough, Gmeeoorh (1974, 18 Minuten) von Iannis Xenakis und Pansophiæ for John Ogdon (1990, 42 Minuten) von Alistair Hinton (letzteres atmet einen ähnlichen Geist wie die Musik Sorabjis und spricht beinahe dieselbe Sprache). Jedenfalls stellt schon allein unter dem Gesichtspunkt der Kondition bereits die Erste Orgelsymphonie Sorabjis an den Spieler Anforderungen, die die der Werke anderer Komponisten weit übersteigen. Sorabjis drei Orgelsymphonien nehmen zu an Schwierigkeiten, was die Dritte Orgelsymphonie (1949–53) zum schwierigsten Orgelwerk macht, das es gibt. Sicher, es wäre eine belanglose Feststellung, wenn es so wäre, daß das Bewältigen möglichst großer Schwierigkeiten als Selbstzweck angesehen würde; aber Tatsache ist, daß die Schwierigkeiten sich wirklich aus den musikalischen Notwendigkeiten ergeben — jede Note trägt zum Ganzen bei und ist dadurch gerechtfertigt.

Die Dritte Orgelsymphonie, Norman Gentieu, einem Freund des Komponisten, gewidmet, wurde wie die beiden vorhergehenden an einem Kreuzungspunkt im Schaffen des Komponisten geschrieben, unterbrochen durch die Fertigstellung der großen „Jami“-Symphonie von 1942 bis 51 für Orchester, Klavier, Orgel, Chor und Baritonsolo. Sie hat die gleiche Länge wie die Zweite Orgelsymphonie. Der erste Satz ist in der Technik vergleichbar mit dem ersten Satz der zweiten Symphonie außer, daß es nicht sechzehn sondern neunundvierzig thematische Charaktere gibt. Der Mittelsatz, der kürzeste der drei, ist betitelt mit Grave — Chorale — Ripieno und beinhaltet mehrere Stellen von hinreißender harmonischer Schönheit. Man fühlt sich in diesem Satz an Liszts Weinen, Klagen erinnert. Der Schlußsatz setzt sich zusammen aus Toccata, Passacaglia (49 Variationen), Cadenza und Fuge (mit sechs Themen). Eine Aufführung dieser letzten Orgelsymphonie ist in vier oder fünf Jahren geplant; zunächst muß brauchbares Notenmaterial hergestellt und dann das Werk einstudiert werden. Eine vollständige Bewertung dieses riesigen apokalyptischen Werkes wird solange warten müssen.

Wie Ronald Stevenson sagt:

„Die Schwierigkeit über Sorabji zu schreiben ist, daß einem bei dem Versuch, etwas über die überschäumende schöpferische Energie zu sagen, die Sprache verläßt. Der Versuch, in einer Sprache über ihn zu schreiben, ist so, wie wenn man versucht, sieben Seen in einen Eimer zu füllen oder einen Geist in eine Flasche.“

Das letzte Wort hat K.S.S.:

„ …wenn Organismen wachsen und sich entwickeln, werden sie immer komplexer und kunstvoller — das ist der Rhythmus, der den Wechsel der Jahreszeiten beherrscht, der niemals endende Wechsel, in welchem sich jedoch keine Bewegung exakt wiederholt, sodaß keine zwei Blätter sich gleichen in ihrem Aderngeflecht, daß keine zwei Tage genau dieselbe Länge haben, daß tatsächlich kein Ding auf der Welt perfekt symmetrisch ist, sondern immerwährende Abwechslung und Unterscheidung sich überall finden.
… Wie sich der Mensch zur Natur verhält, so die Kunst zum Menschen — der Mensch das höchste Produkt der Natur, die Kunst das höchste Produkt des Menschen — das Ende, die Summe und der Höhepunkt all seiner Aktivitäten. So, wie Gott in der Schöpfungsgeschichte sagt: „Es werde Licht“, als nur Dunkelheit über dem Wasser war, ebenso kann der Mensch sagen: „Es werde Kunst“. Hier geschieht es, daß der Mensch ein Gott wird und wie ein Gott erschaffen kann, was niemals vorher gewesen ist. Auf diese Weise fließt etwas aus der Mannigfaltigkeit der Natur durch die Menschen in die Kunst, die unendliche Vielfalt und komplexe, sich stetig wandelnde Rhythmen.
… je größer das übertragende Medium — d.h. je größer der Künstler — desto mehr von diesem nicht enden wollenden Reichtum und dieser Kompliziertheit wird durch ihn hindurch Ausdruck finden in seinem Werk, und wir sollten froh darüber sein und überschwänglich jubeln, aber nicht von ihm erwarten, daß er aus Rücksicht auf unsere Schwächlichkeit seine überfließenden Gedanken bremst und in ein erbärmliches Tröpfeln zwängt. Wenn der Amazonas dich mit seiner Flut hinwegschwemmt, wenn du versuchst, in den Wassermassen zu schwimmen, dann ist das zwar dein Mißgeschick, aber nicht seine Schuld. Du hast kein Recht, vom Amazonas zu erwarten, daß er durch eine Badewanne fließt gerade mit der Stärke und der Wassermenge, die du verkraften kannst. Du hättest dem Amazonas aus dem Weg gehen können!“


[This article originally appeared as programme notes to a performance of Sorabji’ Organ Symphony No.1 given by Kevin Bowyer at Darmstadt Pauluskirche in 1998.]