Kevin Bowyer (German translation by Wolfgang Kleber): Sorabji’s Organ Symphony No. 1 (7/9)

Die Zweite Orgelsymphonie, E. Emlyn Davies gewidmet, ist gut dreimal so lang wie die Erste und erfordert zwei Abende für ihre komplette Aufführung. Sie wurde zwischen 1929 und 1932 komponiert — eine sehr bedeutende Periode in Sorabjis Schaffen: im selben Zeitraum entstand auch sein Opus Clavicembalisticum (1929–30). Der Einfluß jenes Werkes kann in der Zweiten Orgelsymphonie gesehen und gefühlt werden, besonders im zweiten und dritten Satz. Der erste Satz hat vieles gemeinsam mit dem letzten Satz der Ersten Orgelsymphonie; die Form ist weniger vorbestimmt und festgelegt als daß sie sich mehr und mehr aus dem Fortschreiten der Musik entwickelt. Es ist eine Art Musikdrama mit sechzehn Themen. Diese Form wurde Sorabjis Standardform für erste Sätze in Symphonien. Alle sechs seiner Symphonien für Klavier solo haben erste Sätze, die so geformt sind; am klarsten finden wir das in der Vierten Symphonie für Klavier solo (1962–64), deren erster Satz den gleichen Umfang hat wie derjenige der Zweiten Orgelsymphonie. Der zweite Satz enthält ein Thema mit 49 Variationen und Reminiszenz (ziemlich genaue Wiederholung des Themas). Das Thema, fließend mit langem Atem, auf dem der riesige Satz beruht, ist gewiß eines der sinnlichsten und gefühlvollsten, die es gibt. Die Variationen 43 bis 49 verbinden nach und nach alle 16 Themen aus dem ersten Satz mit dem Variationsthema. Es ist geradezu überwältigend, welche Spannung und welch großer Zusammenhang daraus resultiert. Das Finale ist ein Präludium, Adagio, Toccata und Fuge (sechs- bis siebenstimmig). Die Coda mit ihrer strahlenden Kadenz und ihrem weit expandierten C-dur-Akkord hat eine Wirkung, die sprachlos macht, und gehört zum Allerstärksten, was für Orgel jemals geschrieben wurde.

Sorabjis Manuskript ist flüssig und beweglich — die Energie und das Format dieser Musik ist auf einen Blick zu sehen. Es gibt natürlich viele Schwierigkeiten für den, der solch unveröffentlichten Werke aufführen will. Es sind dieselben Schwierigkeiten, vor die der Notensetzer beim Vorbereiten der Drucklegung gestellt wird — was die hohe Zahl der Druckfehler erklärt. Bei Sorabjis Werken ist die erste Niederschrift gewöhlicherweise auch schon die Reinschrift; er machte fast keine Skizzen und komponierte direkt von der ersten Seite an bis zum Ende eines Stückes. Diese Arbeitsweise, gekoppelt mit dem von ihm benutzen Federhalter und vor allem der Geschwindigkeit, mit der er schrieb, ist die Ursache für viele Undeutlichkeiten und manche Fehler in seinen Manuskripten. Sein lebenslanger Freund, Norman Peterkin, nannte Sorabjis Sprechweise „fast unverständlich“, seine Gedanken eilten ihm so schnell voraus, daß er die Worte kaum formen konnte. Diese fiebrige und hektische Geschwindigkeit wird sehr deutlich in seinen handschriftlichen Briefen und seinen Manuskripten. Um den Notentext genau erkennen zu können, muß man vollständig vertraut sein mit seiner Handschrift; die keilförmigen Notenköpfe sind oft extrem ungenau plaziert und viele Vorzeichen sind fast nicht zu entziffern oder scheinen falsch zu sein. Zum Beispiel: Was aussieht wie ein Kreuz für die Note D steht manchmal vor einem F. In allen diesen Fällen muß man Entscheidungen treffen.

Hinzu kommt, daß die Notenwerte manchmal nicht stimmen können; eine Kette von 24 Sechzehnteln in der linken Hand stehen 28 in der rechten gegenüber in einer Passage, die die Möglichkeit, „irrationale“ Notenwerte zu benutzen ausschließt — vier Sechzehntel müßten in der linken Hand hinzugefügt werden oder rechts entfernt werden; wie auch immer, die thematischen Bezüge und die „Ebbe und Flut“ einer solchen Phrase müssen unverändert bleiben. Ich habe sogar zwei oder drei Stellen gefunden, an welchen der Komponist vergißt, daß er gerade im Baßschlüssel schreibt und plötzlich ohne Pause im Violinschlüssel weiter schreibt. Ein tiefes E zum Beispiel wird — beim Umwenden der Seite — mit einem hohen C verbunden, wobei beide Noten für sich genommen richtig sind: das tiefe E schließt sich folgerichtig an die vorhergehenden Töne an, und das hohe C wird in den folgenden Noten ganz richtig weitergeführt — offensichtlich ist kein Kompromiß zu erreichen, wenn man sich strikt an die aufgeschriebenen Töne hält — die Passage muß überarbeitet werden in einer Weise, daß der weiche Fluß der Phrase so klingt, wie es sich der Komponist vielleicht gedacht hat. All dies zeigt deutlich, daß es nicht unbedingt praktisch ist, direkt aus dem Manuskript zu spielen; ganz im Gegenteil ist es oft besonders unangenehm. Aus diesen Gründen habe ich eine neue Herausgabe der Zweiten Orgelsymphonie in den Jahren 1988 bis 1991 vorbereitet unter Berücksichtigung des Originalmanuskriptes. Hierfür war es notwendig, das ganze Werk mit seinen cirka 350 Manuskriptseiten neu zu schreiben. Auch habe ich mit den Arbeiten an einer neuen Ausgabe der noch schwerer lesbaren Dritten Orgelsymphonie begonnen.