Kevin Bowyer (German translation by Wolfgang Kleber): Sorabji’s Organ Symphony No. 1 (3/9)

1947 wurde Sorabjis zweiter Band mit Aufsätzen, Mi Contra Fa, veröffentlicht. Er enthält die Artikel über Godowski, Bernard van Dieren, Szymanowski und über die Lieder von Francis George Scott. Zu dieser Zeit hatte sich seine Empörung über die Menschheit verstärkt und verfestigt. Er drückte sich immer frei, oft zornig aus. Das folgende Zitat von Norman Douglas’ Alone eröffnet das Buch:

„Bedenke gründlich, was dein Nachbar für ein Idiot ist. Dann frage dich selbst, ob es Wert hat darauf zu achten, was er über dich denkt… Wäre ein Tag doppelt so lang, könnte jemand es für eine Zerstreuung halten, danach zu suchen, ob dieser unbefriedigende Kerl irgendwelche anderen Empfindungen hat als die physiologischen, die wir mit allen Tieren auf der Erde gemeinsam haben — ein kaum erfolgversprechender Zeitvertreib. Es wäre so, wie wenn man einen Floh im Heusack oder einen Witz in der Bibel sucht. Man kann ihn vielleicht finden — aber mit welch großem Aufwand! Deshalb wird der Weise seinen Weg gehen, vorbereitet, sich selbst mehr und mehr aus den allgemeinen Trends und Meinungen herauswachsen zu sehen; denn das ist die unvermeidliche Entwicklung von nachdenklichen und sich selbst achtenden Geistern. Der Weise verachtet es, seine Zeitgenossen zu bekehren: sie sind es nicht wert. Er hat bessere Dinge zu tun. Während andere ihren Kummer pflegen, pflegt er seinen Spaß. Er strebt danach, um jeden Preis sich selbst zu finden, und dann zu sich selbst zu stehen — eine wertvolle Beschäftigung für das ganze Leben.“

Im selben Band finden wir:

„… der ‚Mad Englishman’ des 18. Jahrhunderts — dieser anregende und für sich einnehmende Exzentriker, den dieses Land hervorbrachte, als es noch mehr von Individualisten als von Kinobesuchern bewohnt war.“

Und:

„… als ich älter wurde, bemerkte ich, daß meine Ablehnung gegenüber meinen Zeitgenossen sprunghaft größer wurde: ich sehe meine eigenen Mängel und Schwächen in erträglichem Maße mit einer angemessenen Ausgeglichenheit; diese der Anderen empfinde ich aber als eine unerträgliche Last. Der Blick auf sie in ihren unterschiedlichen Stadien körperlicher und geistiger Häßlichkeit ist eine anwidernde und erniedrigende Erinnerung daran, daß auch ich einer von ihnen bin; das bedrückt mich.“

Und:

„Man ist so oft zu dem Gedanken verleitet, daß ein Mann oder eine Frau, die eine Karriere wie die eines Musikers macht, weit entfernt ist von den Bedürfnissen der Menge und nicht deren gewöhnlichen Interessen und Charaktereigenschaften teilt, ja Individualität in der äußeren Erscheinung und unabhängiges Urteilsvermögen hat. Schmerzlicher Irrtum! In den meisten Fällen ist er wie jeder Andere auch — ausgenommen seiner Eigenschaft als Musiker. Dieselben Ansichten, genauso gierig und unkritisch anfällig für die Meinungen der Presse wie jeder andere auch. Insgesamt hat er keine Qualitäten des Verstandes und der Persönlichkeit, …“

Und — vielleicht am wichtigsten:

„Man hört eine Menge über den Elfenbeinturm, die geistige Heimat von jenen schöpferischen Künstlern, die mit Horaz sagen: ‚Odi profanum vulgus, et arceo, …‘ — man meint, daß ihre dekorative und anmutige Abgeschiedenheit zart und zerbrechlich ist wie Elfenbein. Es ist ein unglücklicher Vergleich, der, wie ich meine, sehr wenig Bezug zur Wirklichkeit hat: ich spreche nur für mich selbst, wenn ich sage, daß ich keinen Elfenbeinturm möchte, sondern einen Turm aus Granit mit einer Menge von siedendem Öl und geschmolzenem Blei, um es über unerwünschte Eindringlinge zu gießen, die meine Zurückgezogenheit stören wollen. Es ist — wenn überhaupt — bei weitem nicht genug gesagt worden zugunsten des kreativen Künstlers, vorausgesetzt, er ist tatsächlich so beschaffen: bewußt ferngehalten von seinen Mitmenschen außer der Gesellschaft anderer Komponisten, die Musik machen (manchmal), und solchen, die sie eher verunstalten, den Interpreten … Halte ihn fortan für immer von der unerquicklichen Notwendigkeit befreit, mit dem Hut in der Hand auf Dirigenten, Interpreten und solche Rindviecher zu warten, und von der Verpflichtung, das gelehrte idiotische Geschnatter der Kritiker respektvoll zu beachten. Welch Erleichterung, nicht mehr mit Stardirigenten der zehnfachen Größe dinieren zu müssen oder mit einem Ausdruck von gespieltem Interesse den Ausschüttungen von selbsherrlichem und stinkendem Abfall der von sich selbst besessenen Interpreten zuhören zu müssen!“

Wenn man all dies bedenkt, so ist es kaum überraschend, daß kein Werk, das nach dem Opus Clavicembalisticum geschrieben worden ist, gedruckt wurde, bis 1987 die Fantasiettina sul nome illustre dell’egregio poeta Hugh MacDiarmid ossia Christopher Grieve veröffentlicht wurde (komponiert 1961, verlegt bei Bardic Edition 1987 in einem Lehrbuch von Ronald Stevenson).

Der selbstauferlegte „Bann“ bremste keineswegs die kontinuierliche Schaffenskraft Sorabjis, die bis 1982 andauerte. In der Periode zwischen 1936 und den frühen Fünfzigerjahren entstanden unter anderem die Symphony No. 1 „Tantrik“ (1938–39) für Klavier solo (die erste von sechs Klaviersymphonien), "Gulistan" (1940), St. Bertrand de Comminges (1941 auf der Grundlage einer Kurzgeschichte von M. R. James), One Hundred Transcendental Studies (1940–44), Sequentia Cyclica on „Dies Iræ“ (1949), Symphony No. 2 für Klavier solo (1952–54), die Dritte Orgelsymphonie (1949–53) und die gewaltige „Jami“-Symphonie (Symphony No. 2) für Orchester, Klavier, Orgel und Chor mit einem Baritonsolo im letzten Satz (1942–51). Sorabji besaß in der Tat außergewöhnliche Konzentrationskräfte, die es ihm erlaubten, die Komposition eines großen Werkes zu unterbrechen, um ein anderes Stück zu schreiben. Es gibt nur sehr wenige unvollendete Werke von ihm. Er komponierte für einen kleinen Freundeskreis; jedes Werk widmete er einer einzelnen Person, die — ohne das Werk jemals in einem Konzert zu hören — zufrieden sein mußte mit der Ehre der Widmung oder mit einer privaten Vorführung durch den Komponisten. Eine der wenigen Ausnahmen von dieser Gepflogenheit fand im Dezember 1959 statt, als der junge John Ogdon im Hause Ronald Stevensons in Schottland eine private Aufführung des Opus Clavicembalisticum für einen kleinen Personenkreis gab unter Anwesenheit des Widmungsträgers Hugh MacDiarmid.

In den frühen Fünfzigerjahren entwarf und baute Sorabji seinen „Granit-Turm“ — sein Haus. „The Eye“, in Corfe Castle in der Grafschaft Dorset, einer Gegend, die er seit 1917 kannte und liebte. Am Tor ist folgender Spruch angebracht:

THE EYE
NO
FLAG DAY OR
CHARITY TOUTING
NO
HAWKERS PEDLARS
OR CANVASSERS
POLITICAL OR OTHER
GENUINE CATHOLIC
I.E., ROMAN SISTERS
WELCOME

Er lebte weiterhin sehr zurückgezogen und die Dorfbewohner wußten wenig oder nichts über den Genius, der in ihrer Nähe still und stetig sein Schaffen fortsetzte. Werke, die in dieser Zeit geschrieben wurden, sind unter anderem die letzten vier Symphonien für Klavier solo (1959–60, 1962–64, 1973–74 und 1975–76) und die Messa Alta Sinfonica für Orchester, Orgel, Soli und Chor (1955–61).